Ein offener geschlossener Brief an Schulmenschen

Erlebnisse in Zeiten der Pandemie

Vorbemerkung:
Eigentlich habe ich den Brief für mich geschrieben, um die Themen sortieren zu können. Einige Erlebnisse im neuen Schuljahr führten nun dazu, dass ich Ihnen die Zeilen nicht mehr vorenthalte. Das Angebot zu einem Round Table bleibt aufrecht.
Lesen Sie diesen Brief nur, wenn Sie mit harscher Kritik umgehen können, Provokation als Mittel der gezielten Empörung begreifen und bereit sind, das, was auf Sie zutrifft, auch konsequent persönlich zu nehmen. Meine Hoffnung ist, dass die Guten bestärkt und die Schwachen aufgerüttelt werden.
XXX, am 24.6.1n den Zeiten der Pandemie.

Sehr geschätzte Lehrerinnen und Lehrer,
Sehr geehrter Herr Direktor,


noch bevor das Pandemie-Schuljahr zu Ende geht, möchte ich euch und Ihnen einiges rückmelden. Doch erst noch ein wichtiges Vorwort:
Es gab auch in diesen schwierigen Zeiten Lehrer:innen (das waren immer die gleichen, wenigen), von den die Kinder schwärmten. Es gab und gibt Lehrpersonen mit hohem Engagement und einer großen sozialen Verbindungsstärke.
Die folgenden Aussagen können daher niemals mit „immer“ oder „alle“ versehen werden – schön wäre es, wenn die Informationen einen Diskussions- und Reformprozess auslösen könnten und dazu führen, dass in der Schule ein neuer Geist einkehrt.
Eine Haltung, die in vielen zurückliegenden Jahren viel deutlicher spürbar war. Ein Geist, der das Miteinander fördert, die Menschlichkeit betont und in dessen Sinn danach gestrebt wird, allen Schüler:innen ein ausreichendes Weiterkommen zu ermöglichen.

Sich abzuputzen mit der Haltung, „der*die Schüler:in sei faul und/oder unfähig“, ist nicht mehr zeitgemäß.
Leider erhielt ich auch in persönlichen Gesprächen einige Eindrücke, dass mechanistisches, antiquiertes Lehrverhalten und Gedankengut erstaunlicherweise gerade bei einigen jüngeren Lehrpersonen überwiegen.

Über die Versäumnisse in der Lehrausbildung habe ich schon an anderer Stelle geschrieben, diese entschuldigen aber nicht persönliche Unfähigkeit und Weiterbildungsresistenz. Die Verantwortung für die Art des Unterreichts liegt immer bei der Lehrperson, nicht beim System und nicht bei der Ausbildung.

Ich habe aber auch Gespräche geführt, die von einem wohltuenden Menschbild und sozialem Engagement geprägt waren.

Liebe betroffene Lehrerin, lieber betroffener Lehrer
(ob Sie betroffen sind, müssen Sie mit sich selbst und Ihrem Gewissen klären, vielleicht auch im Rahmen einer Supervision), wenn Sie keine zeitgemäße und ermutigende Beziehung zu den Schüler:innen zuwege bringen, den Kindern die Freude am Lesen, Schreiben und anderen Gegenständen rauben, nehmen Sie Ihren Hut und verlassen Sie den Unterrichtsbereich. Besser früher als später.
Ein Berufswechsel ist nicht immer schlecht, und wenn die Erkenntnis da ist, sollte man nicht zögern, seinem Leben eine neue Richtung zu geben.

Nun zum ernsten Teil des Schreibens: Laufend erreichten und erreichen mich Berichte über folgende Missstände, die keine Einzelfälle sind und in manchen Familien ordentliche Probleme aufwerfen. Leider sind viele Eltern und Schüler:innen so entmutigt, dass sie ausdrücklich gebeten haben, keinesfalls persönlich zitiert zu werden.
Das wirft ebenfalls ein bezeichnendes Bild auf unsere Gesellschaft und die Wertschätzung und Gleichwertigkeit im Schul- und Bildungssystem: Aus Angst vor Benachteiligung ist offene, namentliche Rückmeldung nicht möglich.

“Der Konkurrenzgeist, der in der Schule herrscht, zerstört alle Gefühle menschlicher Bruderschaft und Zusammenarbeit, und versteht Erfolg nicht als das Ergebnis einer Liebe zu produktiver und nachdenkender Arbeit, sondern als Produkt des persönlichen Ehrgeizes und der Angst vor Ablehnung.”
Albert Einstein

Die Themen
• Ungleichbehandlung von Schüler:innen
• Eklatant fragwürdige Notenvergaben, keine oder nicht kommunizierte Notenschlüssel, nicht nachvollziehbare Beurteilungen
• Leistungs- und Notenvergleiche vor allen Mitschülern
• Druck und Herabwürdigung statt, wie von Minister Faßmann empfohlen, das Auffangen und „Mitnehmen“ aller Schüler:innen.
• Arbeitsaufträge, die zusätzlich die Eltern belasteten (vor allem im Home-Schooling)
• Fragwürdige Abschreib- und Ausmalaufgaben
• Schüler:innen als Hilfssheriffs (Aufpasser im Unterricht, ob die Mitschüler:innen „brav“ sind, also Denunziantentum und Spaltung der Klassengemeinschaft)
• Unnötiges Erzeugen von Konkurrenz statt willkommener Gemeinschaft im endlich wieder zugelassenen Präsenzunterricht
• Bestrafung von Schüler:innen mit ausgefallenen (altertümlichen) Methoden aus Zeiten der Schwarzen Pädagogik
• Schüler:innen, die die Schule und/oder sich selbst aufgeben

Alles in allem Themen, die man sich von einer Schule der Sechziger und Siebziger erwarten würde, aber nicht von einem Lehrbetrieb in den 2020igern.

Die Folgen
• Die Kinder verlieren die Lust am Lernen, die Freude an vielen Gegenständen und den Glauben an die eigene Wirksamkeit
• Kinder erzählen, dass sie ihre Lehrperson hassen, weil sie sich entwürdigend und ungerecht behandelt fühlen
• Die Schule „verliert“ Schüler:innen
• Stress in den Familien vieler Schüler:innen
• Trend zur Abwanderung an andere Schulen
• Anfragen an die Gemeinde um Übernahme der Schulkosten in gemeindefernen Schulen
• Initiativen zur Gründung von Privatschulen
• Allen Ernstes fragte mich ein Kind: „Warum lernen die Jungen nicht von den Alten, wie gutes Unterrichten geht?“

Online-Lernen (bereits ausführlich rückgemeldet)
In der Zeit des Lockdowns konnte ich oftmals feststellen, dass Online-Lernen außerordentlich unkoordiniert und didaktisch oft fragwürdig ablief, trotz entsprechender Basisliteratur und Best Practice Beispielen an anderen Schulen. Ganz offensichtlich war es nicht möglich, einen koordinierten und konzertierten Online-Aktivitätsplan innerhalb des Kollegiums zu erstellen. Wo blieb das Machtwort, die ordnende Hand einer Person, die da die Führung übernommen hätte?
Es gab viel zu wenig Online-Unterrichtsstunden, dafür viele Zettel und Beschäftigungsaufgaben, da darf es nicht wundern, dass viele Schüler:innen abschalteten.

Schulschlussphase
Es kann doch nicht sein, dass in der Zeit einer noch nie dagewesenen Pandemie nach dem Lockdown die wichtigste Aktivität von Lehrer:innen ist, die Kinder mit Aufgaben, Tests und Prüfungen zu drillen. Die Kinder so wie sie sind, anzunehmen und das Gute, die Erfolge, die Fortschritte aufzuzeigen, ihnen Zukunftsmut zu vermitteln ist doch die viel dringlichere Aufgabe.

Glauben Sie wirklich, dass ein „Nicht Genügend“ notwendig ist? Fangen Sie die Kinder auf. Geben Sie den Schüler:innen den Glauben an gute, gerechte und menschliche Lehrpersonen zurück. Lassen Sie KEIN KIND zurück. Das ist Ihre Aufgabe, viel mehr als mechanistisch-statistisch-pragmatisches Notenverteilen.

Und: Wecken Sie in den Kindern die Freude am Lernen, Erforschen und Entdecken, die Liebe (oder zumindest die Zuneigung) zu den wichtigen Fächern Lesen, Schreiben, Rechnen, Sprechen! Lassen Sie Kunst, Kultur, Musik und Sport einen wichtigen Teil des Schullebens sein! All das funktioniert aber nicht, wenn es in diesen Fächern nur um Noten, braves Erfüllen von (unkreativen) Aufgaben und Nachplappern geht, und schon gar nicht, wenn junge Menschen unter Druck gesetzt werden.

„Wir brauchen Mitarbeiter:innen die wir nicht wollen: Initiativ, aufmüpfig, selbstbestimmt, nicht führbar und kreativ“
Sabine Kluge, Global Program Manager Learning & Development bei SIEMENS,
3. Tagung Corporate Learning in Berlin, 2017


Weil wir solche Menschen in der Wirtschaft (und übrigens auch in Kunst, Kultur, Politik und Sozialwesen) dringend brauchen, stelle ich mir und Ihnen die Frage: „Wie passen die gefügig gemachten und dressierten Aufgabenerfüller:innen in diese Zukunft?“ Und wie wird mit den anderen umgegangen, den nicht Angepassten?

Leichtere Schultaschen
Eine Kleinigkeit, und gleichzeitig eine große Bitte vieler Eltern: Beenden Sie die Zettel- und Mappen-Wirtschaft: Zuviel Volumen, zu viel Gewicht, zu viel Chancen für Chaos und Unordnung. Schulbücher und einfache Hefte müssen reichen, vor allem bei digitaler Unterstützung. Ganz abgesehen davon, dass unnötiges Kopieren Papierverschwendung und Abfallverursachung ist.
Machen Sie die Schultaschen leichter, reduzieren Sie den Druck, der auf den Schultern der Kinder lastet, physisch und psychisch – und Sie werden sich wundern, wie sehr sich das Unterrichtsklima verbessert, wenn die Angst und der Druck abnehmen.

Ihre Entscheidung
ist es jetzt, wie Sie auf diese Ausführungen reagieren:
o Ich sehe das Positive und nehme es auch für mich in Anspruch, und ich trachte nach Entwicklung in Teilbereichen
o Ich erkenne meine Lernbedarfe und gehe ihnen nach
o Ich bin Lehrer:in und weiß sowieso alles besser, also was soll der Blödsinn
o Ich spreche mit anderen Lehrer:innen darüber
o Ich will, dass unsere Schule etwas besonders Wertvolles für die Schüler:innen wird

Liebe Lehrerinnen und Lehrer,
wer von Ihnen hat die Vision, die Schule zu einem Ort zu machen, wo Potenziale sich entfalten können, wo man nicht stur auf mechanistisches Abarbeiten schaut, wo man sich traut, innerhalb des Lehrplans die möglichen Freiheiten auszukosten und wo man auch soziale, kreative und kooperativ gemeinsame Leistungen, gemeinsamen Fortschritt schafft.
In meiner Funktion habe ich diese klaren, auch provokanten Aussagen persönlich recherchiert und formuliert, und ich kann nur anbieten, in einem Round Table mit interessierten und zukunftsorientierten Pädagog:innen an Ideen für die Schule zu arbeiten. Auch der zuständige Bürgermeister hat sich zu einem Gespräch bereit erklärt.
Trotz der geäußerten Kritik und den aufgezeigten Problemfeldern bin ich überzeugt, dass es Lösungen gibt, die zum Besseren führen.
Ich verstehe auch, dass Entwicklungen nicht erzwungen werden kann.
Wer hat den Mut, die Energie, das Engagement, sich auf eine Gesprächsrunde einzulassen?

Mit freundlichen Grüßen,
und bestem Dank an alle, die sich für das Wohl und die Bildung unserer Kinder einsetzen,

Hannes Felgitsch

Nachbemerkung: Ich hab den Brief dann doch nicht abgesendet. Deswegen ist er auch nicht unter der Rubrik "Offene Briefe"

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